German politician Daniel Cohn-Bendit wrote a letter to Osman Kavala on 29 March 2018. Below is the translation of the original text*:

Dear Osman,

When I decided to write a letter to you to express that we did not forget you, the German press was engrossed by two decisions of the Turkish judiciary: the release of Deniz Yücel and the aggravated life imprisonment of journalists, including Nazlı Ilıcak, Ahmet and Mehmet Altan.

Dear Osman, I don’t know whether you understand what is going on in Turkey, but I don’t. What’s going on in Turkey?

I am increasingly worried, and each day I well up with sadness as I learn that journalists, writers, and artists I know are being arrested. In like manner, your arrest a few months ago has been a source of grief.

I try to understand the reason behind your arrest, but I cannot apprehend it. President Erdoğan, who himself has been arrested and sentenced for reciting a poem, today arrests hundreds, thousands of people for expressing an opinion, or sympathizing with a political party, or affiliating with a social group. Incomprehensible...

I had the opportunity to talk privately to President Erdoğan several times. From the first day of the accession of Erdoğan and the AKP to power, I have seen it as an opportunity for Turkey, and therefore supported the start of accession negotiations. And we managed it. I have also witnessed your efforts numerous times as you advocated for the accession of Turkey to the EU. Until 2011, Turkey has not only undergone a deep democratization process, but also experienced an economic development. During those years, I paid no attention to people who believed that Erdoğan has a “hidden agenda”, and I have continuously pointed out the reforms he has taken.

However, in recent years I no longer understand Mr. Erdogan and the developments in Turkey. When I read the news on Turkey, I feel concerned. It is difficult to estimate where Turkey is headed.

All these reminds me of Putin's Russia: A Turkey in which the freedom of the press and expression and the rule of law are trampled on. It is difficult to conceive the reason behind it. I don’t understand why Erdogan, whom I have been able to speak several times and of whom I thought I knew his world view, has changed so radically.

People are telling me “he has not changed, he has always been like that; the democratization reforms, even the EU accession process were just instruments on the way to power”. They are telling me that he also deceived and used us who supported Turkey's accession to the EU. I find it difficult to believe. In all our conversations with President Erdogan, I had the impression of sitting in front of a sincere politician who was fighting against the influence of the military, for a constitutional state, for democracy, for freedom of expression and freedom of the press.

Obviously, I was wrong. Erdoğan and Turkey that I have known is far cry from what I’ve been watching over the past six years.

Dear Osman, from these lines of disappointment and concern, you must not derive that I am pessimistic. We also witnessed in the last referendum that the Turkey’s youth favors democracy, opening towards Europe, and said “no” to Erdogan. This social stratum that is hopefully getting bigger day by day is a source of hope for us.

In these cold winter days, dreaming about spring flowers and feeling the warmth of summer is not an easy task. Yet, we know that they are coming. I am convinced that democracy will triumph, and we will soon be able to toast to our common future by the Bosporus.

I am waiting for you in Frankfurt.

Dany, 29 March 2018

 


* Brief von Daniel Cohn-Bendit an Osman Kavala

Lieber Osman,

als ich entschied Dir einen Brief zu schreiben und Dir zu sagen, dass wir Dich nicht vergessen haben, wurde die deutsche Presse von zwei Entscheidungen der türkischen Justiz beherrscht. Die Freilassung von Deniz und die erschwerte lebenslange Haft von Journalisten, darunter Nazli Ilicak, Ahmet und Mehmet Altan.

Lieber Osman, ich weiß es nicht, ob Du verstehst, was in der Türkei los ist, aber ich verstehe es nicht. Was ist in der Türkei los?

Ich bin zunehmend besorgt und werde jeden Tag von einem Gefühl von Trauer erfasst, wenn ich erfahre, dass Journalisten, Schriftsteller, Künstler, die ich kenne verhaftet werden. Auch deine Verhaftung vor einigen Monaten wurde eine Quelle der Trauer.

Ich versuche zu verstehen, weshalb du verhaftet wurdest. Ich verstehe es nicht. Staatspräsident Erdogan, der selbst wege der Rezitation  eines Gedichtes verhaftet und verurteilt wurde, lässt heute hunderte, tausende Menschen wegen ihrer Meinung oder Sympathie einer politischen Partei oder Zugehörigkeit einer sozialen Gruppe verhaftet. Unbegreiflich...

Ich hatte einige male die Gelegenheit mit dem Staatspräsidenten Erdogan unter vier Augen zu sprechen. Vom ersten Tag der Regierungsübernahme von Erdogan und der AKP habe ich diese Entwicklung für die Türkei als Chance betrachtet und deshalb die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei unterstützt. Wir haben es geschafft. Ich habe auch Dich beobachtet, wie Du Dich für die Annäherung der Türkei an die EU eingesetzt hast. Die Türkei hat bis 2011 einen tiefen Demokratisierungsprozessdurchgemacht und sich ökonomisch entwickelt. Ich habe in diesen Jahren Leuten keine Beachtung geschenkt, die der Überzeugung waren, dass Erdogan eine „hidden agenda“ hat. Ich habe auf die Reformen hingewiesen, die er angegangen ist.

Ich verstehe jedoch in den letzten Jahren Herrn Erdogan und die Entwicklung in der Türkei nicht mehr und ich kann es mir nicht erklären. Besorgnis ist das herrschende Gefühl, wenn ich die Presse über die Türkei lese. Es ist schwer abzuschätzen, wohin die Türkei steuert.

Alles erinnert mich an Putins Russland.: eine Türkei in der die Presse- und Meinungsfreiheit und der Rechtstaat mit Füßen getreten werden. Warum, ist schwer zu verstehen. Warum sich Erdogan, den ich mehrfach sprechen konnte und von dem ich meinte sein Weltbild zu kennen, sich so radikal geändert hat, begreife ich nicht.

Ich weiß, Freunde sagen mir „er hat sich nicht geändert, er war immer so, die Reformen zur Demokratisierung, auch der  EU-Beitrittsprozess waren nur Instrumente auf dem Wege zu Macht“. Sie sagen mir, dass er auch uns, die den EU-Beitritt der Türkei unterstützt haben, getäuscht und benutzt hat. Ich kann es nicht glauben. Bei allen Gesprächen mit dem Staatspräsidenten Erdogan hatte ich den Eindruck einen aufrichtigen Politiker gegenüber zu sitzen, der gegen den Einfluss des Militärs, für einen Rechtsstaat, für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit kämpfte. Ich habe mich offensichtlich geirrt. Die Entwicklung der letzten sechs Jahre von Erdogan und der Türkei, die ich kannte, sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können.

Lieber Osman, aus diesen Zeilen der Enttäuschung und Besorgnis darfst Du nicht ableiten, dass ich pessimistisch bin. Wir haben auch beim letzten Referendum beobachtet, dass die türkische Jugend für eine Öffnung Richtung Europa eingetreten ist und Erdogan „Nein“ gesagt hat. Diese sozialen Schichten werden jeden Tag größer und eine Quelle der Hoffnung für uns.

In diesen kalten Wintertagen ist es nicht einfach, von Blumen des Frühlings zu träumen und die Wärme des Sommers zu fühlen. Wir wissen jedoch, dass er kommt. Ich bin überzeugt, dass die Demokratie gewinnen wird und wir bald am Wasser des Bosporus auf unsere gemeinsame Zukunft anstoßen werden.

Ich erwarte Dich in Frankfurt.

Dany, 29. März 2018